Gefangene in Mine

Er blickte auf den Mann, der vor ihm zusammengesunken an der rauhen, steinigen Wand lehnte, aber er sah ihn nicht wirklich. ‚Deine Tochter
ist nicht hier‘, dachte er und sah sich in Gedanken im zerstörten Dorf um. ‚Und dort habe ich sie auch nicht gesehen. Sie könnte entkommen
sein. Sie könnte leben.‘ Er seufzte. ‚Und wir leben auch noch ein wenig. Sonst hätte man uns nicht hergebracht, um hier zu arbeiten. Wir
leben.‘ Rulavan ballte eine Faust. ‚Wir leben. Und solange das so ist, werde ich nicht aufgeben. Keinen von uns.‘ Energisch nickte er, wie um
sich seinen Entschluß selbst zu bestätigen. Seine Gedanken kehrten zu Hararth zurück und er betrachtete den Verband, den er ihm vorhin
notdürftig angelegt hatte. Er war nicht wieder durchgeblutet, das war beruhigend. ‚Du hast mit uns gekämpft‘, dachte er. ‚ Du hast ein Dorf
verteidigt, das dich Feind nennt. Und du hast an meiner Seite gestanden, als Tjoren zusammengebrochen ist. Und dennoch bist du nicht
einmal bei uns sicher.‘ Das Schimpfen der anderen Gefangenen und ihre Flüche auf die Orks im Allgemeinen und die Dunländer im Speziellen
drang von überall her aus ihrer vergitterten Zelle zu ihm. Rulavan unterdrückte Tränen der Wut. ‚Sie wissen es nicht besser. Aber sobald
sie merken, woher du kommst, sobald du aufwachst und sprichst, haben wir hier ein Problem. Dabei brauchen wir doch alle einen klaren Kopf.
Wir brauchen einen Plan. Wir müssen hier raus.‘

……………………………….

Jestim erschrak so heftig, dass er sich auf die Zunge biß. Ein Schwert auf seiner Schulter. Er hatte den Mann nicht kommen hören, so sehr war
er darauf konzentriert gewesen, was in dem Lager im Tal unter ihm vor sich ging. Was waren das für Leute, die sich dort aufhielten und
offensichtlich auch nicht gesehen werden wollten? Freund oder Feind? Gehörte dieser Mann zu ihnen oder zu denen in der Mine weiter vorn?
“Waffe weg,“ sagte eine dunkle Stimme leise und bestimmt. Das Eisen der Klinge lag schwer und kalt gegen seinen Hals. Er gehorchte. “Ich
kenne dich“, sagte der Mann, während er Jestims Bogen mit dem Fuß wegstieß. “Du warst einer der Boten, die Nachrichten in unser Lager
gebracht haben. Du bist Jestim Dal.“ Er spuckte den Namen fast aus. Jestim entging das nicht. “Ich weiß nicht, was du gegen mich hast“, erwiderte er, nun sicher, einen Rohirrim hinter sich zu haben. “Vielleicht fragst du dich, was ich hier mache und warum ich, naja… mit einem
Bogen im Anschlag dein Lager beobachtet habe…“ Das wütende Schauben hinter ihm ließ ihn vorsichtiger weitersprechen. “Ich wußte doch
nicht, wer dort gekommen ist. Ich dachte erst, es wären weitere Verbündete der Halborks. Bitte, nimm das Schwert fort, wir haben,
denke ich, das gleiche Problem. Ihr seid sicher wegen der Eisenmine hier, in die sie Gefangene verschleppt haben. Meine Leute sind auch
dort drinnen, wir könnten einander helfen….“ Er brach ab, als er das Schwert seine Haut ritzen fühlte. “Wer sind deine Leute, sag?“
fragte die Stimme, die jetzt sehr kalt klang. “Wer sind deine Leute, nachdem du Aenwulf verraten hast?“ Jestim gab sich Mühe, sein Zittern
zu unterdrücken, als er diesen Namen hörte, aber es gelang ihm nicht ganz, zumal der andere jetzt nicht mehr leise sondern deutlich wütend
sprach. “Weißt du was ich glaube? Ich glaube, deine Leute haben da drinnen das Sagen, und wenn wir dumm genug sind, dir zu vertrauen und dir zu folgen, dann geht es uns wie Aenwulf, geht es uns wie dem ganzen Dorf, das deiner Falschheit zum Opfer gefallen ist. Pech für dich, das du grad an mich geraten bist, da wird nichts aus dem schönen Plan. “
“Du täuschst dich,“ brachte Jestim schließlich voller Entsetzen heraus. “Ich bin nicht…“ weiter kam er nicht. Er bekam einen Stoß in den Rücken, der ihn unsanft zu Boden beförderte und völlig benommen machte. Als er wieder klar denken konnte waren seine Hände bereits gebunden und der andere riß ihn mit einer Leichtigkeit hoch, dass es Jestim übel wurde.
Das war kein Mann, das war ein Fels von über zwei Metern. Da war kein Entkommen. Er wußte, alles hing jetzt für ihn und die anderen davon
ab, geschickt zu reden. Aber sein Mund war voller Blut von der zerbissenen Zunge. Und das Klappern, das er hörte, waren seine Zähne.
Rulavan hätte sicher gewusst, wie man mit diesem Kerl reden mußte, doch Rulavan war nicht da.
Sie erreichten das Lager nach kurzer Zeit. Die Männer dort sahen neugierig auf. “Hey, Daro!“ begrüßte der Hühne einen von ihnen und
schob ihm seinen Gefangenen hin. “Schau mal, was mit seinem Bogen da oben in den Büschen gelegen und auf uns gezielt hat. Kein fetter Ork,
nein. Das ist der Kerl, der deinen Schwager verarscht hat. Interessant, wo der wieder auftaucht, nicht wahr?“
Der Angesprochene sah nicht minder gefährlich aus als der Fels, der ihn in Händen hielt, und der finstere Blick, den er aus seinem einen Auge auf ihn richtete, drang Jestim bis ins Mark. Hier würde er kein Gehör finden. Beißend und tretend wand er sich, obwohl er wußte, daß das fruchtlos sein mußte, aber er war zu panisch, um ruhig abzuwarten. Aenwulfs Schwager, als hätte er nicht schon Pech genug gehabt, mußte es noch immer schlimmer kommen?
Der Hühne ließ sich nicht irre machen. Schnell legte er Jestim einen Unterarm um den Hals, drückte zu, hob ihn leicht vom Boden an und ließ ihn die Füße erst wieder aufsetzen, als er schon fast die Besinnung verloren hatte.
Wie durch einen dunklen Nebel sah er Aenwulfs Schwager aufstehen und näherkommen und hörte wie von weit weg des Großen kalte Stimme: “Das können wir jetzt solange wiederholen, bis du uns sagst, was du wirklich über die Mine weißt.“

…………………………………..

Sie wurde unruhig. Selbst Malarin war schon zurück. Wo blieb Jestim? Es wurde schon dunkel, er hätte vor Stunden zurück sein müssen. War
ihm etwas zugestoßen, als er seine Seite des Tals untersucht hatte? Sie wäre nicht Hararths Tochter, wenn sie so etwas unerforscht
gelassen hätte. Sie bedeutete Malarin knapp, sich bei ihren Sachen im Versteck zu halten, und glitt in die Dämmerung hinaus, den Bergrücken
entlang, auf die Seite hinüber, von der aus man in das kleine Tal blicken konnte, das zur Mine führte.

aus den Ländern von Mittelerde und darüber hinaus