Februar 3019, nach Mine

Rulavan stolperte über das Geröll in der Mine, fing sich wieder, stützte den Mann an seiner Seite, der ebenso erschöpft war wie er und
noch dazu eine tiefe Wunde am Oberkörper hatte. Der Lumpen, den er aufgepresst hielt, war blutig.
Sie hatten die Orks an der Schmiede überrumpelt und mehr mit aufgestauter Wut als Verstand die, die den ersten Angriff überstanden hatten, so in Schrecken versetzt, dass sie sie vor sich hertreiben konnten, in die Richtung, aus der Lorron mit seiner Gruppe kommen mußte. Und er war gekommen. Wilde Freude hatte Rulavan erfüllt, als er die große Gestalt im Halbdunkel der Fackeln hatte kämpfen sehen. „Den Schlag hat Aerwald ihm beigebracht“, hatte er gedacht, „und das war Harams Wirbel. Das ist unser Junge, so, wie wir ihn kennen! Er ist zurück!“ Es war ihnen jedoch wenig Zeit geblieben, nach dem Kampf. Noch war die Mine nicht ganz befreit. „Rulavan“ In dem einen Wort schwang alles mit, was Lorron jetzt nicht aussprechen konnte.
Er war zu ihm gekommen, hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt und ihn prüfend angesehen, ob soweit alles in Ordnung war. „Bringt eure Leute hier raus“, hatte er ihm geraten. „Wir gehen weiter und säubern den Ort von allem, was wir hier noch finden. Der Weg hinaus sollte gesichert sein.“ Dann hatte er gesagt, was Rulavan mehr als alles andere wissen wollte und von Jestim noch nicht erfahren hatte. „Vater ist draußen geblieben, bei den Bogenschützen. Er wird sich um die Verletzten kümmern. Geh zu ihm, wir treffen uns später.“
Der Mann an seiner Seite, er kannte seinen Namen nicht, wußte nur, dass es jemand aus Daerwulfs Patrouille war, keuchte angestrengt und
sackte ihm immer wieder weg. „Nicht mehr lange, komm, halt durch“, beschwor ihn Rulavan. „Draußen kannst du ruhen. Draußen kümmern wir
uns um die Wunde. Der Mann dort, Geol, er kennt sich damit aus. Er bekommt dich wieder hin. Aber ich kann dich nicht tragen. Komm, gehen
wir zu ihm.“ Der Mann nickte mit zusammengebissenen Zähnen, schloß kurz die Augen und kämpfte sich dann weiter. Rulavan hoffte so sehr,
dass Geol ihm würde helfen können. Es waren gute Männer und Daerwulf sollte nicht noch mehr von ihnen verlieren müssen… Es war schon
schlimm genug, dass Bynstans Sohn, Ceolward, bei denen war, die sich in vorderster Reihe gegen ihre Peiniger zur Wehr gesetzt hatten, und
dafür vielleicht mit ihrem Leben bezahlen mußten. Er war bewußtlos und Daerwulf selbst trug ihn gerade hinaus. Daerwulf ging es noch leidlich
gut, und er hatte überlegt, ob er nicht lieber noch bei den Kämpfern bleiben sollte, diesen Plan aber schnell aufgegeben, um den Verletzten
helfen zu können.
Ein junger Mann mit verbundenem Arm empfing sie am Ausgang der Höhle. Malarin. Rulavan blieb vor ihm stehen. „Gut, dass ihr es geschafft
habt „, sagte Malarin. „Wir haben das eigentliche Lager etwas abseits von hier, bei einer alten Hütte. Da sind schon andere, ich soll euch
den Weg zeigen. Kommt mit mir.“ Er führte sie zu einem Wagen, auf den sie die Verletzten legen konnten, und dann einen Weg entlang und an
einer Stelle tiefer in den Wald und in ein kleines Tal. Um eine verfallene Jagdhütte herum, die zu wenig Schutz für alle bot,
war ein Lager entstanden aus Wägen, Zelten, einigen Zugtieren und sogar einem kleinen Lagerfeuer. Wachen standen am Weg. „Sind das
alle?“ fragte ein schlanker Bogenschütze Malarin. Der schüttelte den Kopf. „Daros und Lorrons Gruppe sind ja noch drin, die finden bestimmt
noch den einen oder anderen.“ „Dann weißt du ja, was du zu tun hast. Sobald ihr den Wagen entladen habt, gehst du wieder zurück.“
Malarin nickte und trieb die Maultiere weiter.
Rulavans Augen wurden dunkel, als er über den Platz blickte, zu dem Malarin sie gebracht hatte. Alle, die die Höhle schon hatten verlassen
können, während die Krieger noch die letzten Wachen unschädlich machten hatten sich hier gesammelt. Es gab sogar Frauen und Kinde
dort bei den Befreiten. Sie hatten sich einen Platz zwischen Hütte und Feuer zurechtgemacht, aber die Kinder taten nicht, was andere Kinder
tun. Sie schliefen, oder sie weinten, oder sie saßen an die Erwachsenen gedrängt und starrten vor sich hin. Auf der anderen Seite
der Hütte zwischen Wagen und dem Schutz der Felswand waren mehrere Verletzte auf notdürftigen Lagern aber es war nur eine kleine Anzahl
Gesunder, die sich um sie kümmerten. Rulavan hoffte nur, dass es daran lag, dass die fähigen Krieger noch in der Mine waren. Sie würden
dieses Lager bald aufgeben müssen, soviel war klar, und dann… er mochte nicht daran denken. Er sah Cathilien bei Hararth knien und war
nur froh, dass das Schlimmste erst einmal hinter ihnen lag.
Sie brachten die Schwerverletzten in der Hütte unter, deren Boden mit Stroh aufgeschüttet war, über das man Decken und Felle gelegt hatte.
Dunländer und Rohirrim, heute war es einerlei. Im kleineren Nebenraum der Hütte war alles so aufgebaut, dass dort jemand behandelt werden
konnte. Dort brannte ein Feuer im Kamin, Wassereimer standen daneben und Bretter, die einen alten Tisch verlängerten, bildeten die erhöhte
Unterlage, von der ein Dunländer gerade einen seiner Leute hob und auf die Rulavan nun Daerwulfs Mann legte. Ein älterer Krieger, den er
unten in den Verliesen schon als fähigen Heiler kennen gelernt hatte, half ihm dabei und nahm ihm die Verantwortung ab. „Ihr habt getan, was
ihr konntet. Nun geht und kümmert euch um euch selbst“, riet er ihm. „Auf einem der Wagen draußen findet ihr Verbandszeug.“ Rulavan nickte
ihm dankbar zu und trat zurück, verließ den Raum aber noch nicht. Er beobachtete stumm, wie Geol, ihm den Rücken kehrend, sich die Hände
wusch, neue Verbände aus einer Kiste nahm und einige Kräuterbündel aus einem Beutel auswählte, die er einer Frau gab, damit sie daraus einen
Aufguss bereiten konnte. Er streckte sich steif. Als er zu dem Werkzeug griff, das er in den Flammen gereinigt hatte, erhaschte
Rulavan einen Blick auf sein Gesicht. Der Feuerschein zeichnete die Linien scharf nach. Rulavan schluckte und unterdrückte den Impuls, Geols Namen zu rufen. Leise wandte er sich um und verließ die Hütte. Er konnte ihm hier nicht helfen und er mochte ihn nicht von seiner Arbeit ablenken. Die Verletzten benötigten seinen Freund im Moment dringender als er selbst. „Was sind schon ein paar Stunden mehr“, dachte er,“ wo ich doch jahrelang gewartet habe, ihn wiederzusehen.“
Er suchte sich einen Platz an einem der Wagenräder, lehnte sich dort an, schloß die Augen und lauschte auf die Menschen um sich her. Sie
mochten müde und zerschlagen sein, aber zumindest waren sie in Freiheit und Lorron und die anderen sorgten dafür, dass niemand sie
verfolgen konnte. Rulavan atmete tief durch und versuchte, zu schlafen. Aber so fertig er auch war, bei jedem lauteren Gespräch
schreckte er auf. „Ist alles sicher? Sind wir noch unentdeckt?“ schoß es ihm durch den Kopf, gefolgt von: „Sind die Krieger zurück? Haben
sie alle befreit?“ Die Sorge um diejenigen, die er hier noch nicht wiedergesehen hatte, ließ ihn nicht los. Angespannt huschte sein Blick über das Lager, suchte die Reihen nach vertrauten Gesichtern ab. Einmal glaubte er, den Mann zu erkennen, der ihm von dem Befreiungsplan erzählt hatte, Daronart. Er war immer noch gekleidet wie eine dunländische Wache, blutverschmiert, Umhang und Ärmel zerfetzt vom Kampf. Mit düsterem
Gesichtsausdruck schritt er die Verletzten ab, schien sich auch ein Bild der Lage zu machen. „Sind jetzt alle heraus?“ fragte Rulavan ihn
matt, als er in die Nähe kam. Daronart blieb stehen und musterte ihn mit einem undeutbaren Blick. „Möglich“, brummte er und ging weiter,
um sich mit Daerwulf zu besprechen. Rulavan seufzte innerlich, als er ihm nachsah. Es sah nicht so aus, als habe er sich irgendwelche Ruhe
gönnen können, seit er ihn zuerst getroffen hatte, und es sah auch nicht so aus, als käme er in nächster Zeit dazu. Und Tjoren war nicht
bei denen, die er mitgebracht hatte. Schaudernd bei dem Gedanken lehnte er sich wieder an den Wagen und überlegte, ob er sich nicht
jetzt, wo er etwas geruht hatte, im Lager nützlich machen konnte. Ein Beutel irgendwas krachte neben ihm zu Boden, gefolgt von einem leisen
Fluch. Er griff danach, stand auf und drückte das Säckchen dem Mann in die Hand, der versucht hatte, es unter einem Stapel
herauszuarbeiten. Geol murmelte ein müdes „Danke“, legte den Beutel oben auf eine Kiste, die er mitnehmen wollte und erkannte dann, wer
vor ihm stand. Einen Moment lang blickten sie sich einfach nur an. Dann umarmten sie einander und die Tränen, die Rulavan immer
zurückgehalten hatte, brachen sich Bahn. Er ließ sie laufen, je eher sie fort waren, desto besser. „Ich wollte nie ein Anführer sein“,
sagte er leise. „Das warst immer du.“ „… und ich habe euch im Stich gelassen. Es tut mir leid“, flüsterte Geol heiser. Rulavan schüttelte den Kopf, hob ihn von Geols Schulter und blickte ihn an. „Ich weiß doch, warum du gegangen bist.“ Die Tränen begannen bereits zu trocknen, aber er sah noch immer bedrückt aus. „Nur wir sind übrig, und die Probleme werden immer mehr,“ murmelte er niedergeschlagen. „Ich habe immer getan, was nötig war, aber…“ Seine Stimme wurde jetzt lauter, aufgeregter. “ Geol, es war nicht genug… Darras sollte mich nur kurz vertreten, er hat keine Ahnung, wo ich abgeblieben bin… wer weiß, wie es ihm und meinen Leuten gerade ergeht… ich habe Tjoren in der Mine verloren… Rohan zerfällt um mich herum, der König…“ er schluckte, konnte nicht weitersprechen. Geol drückte seine Schultern. „Eins nach dem anderen“, sagte er ruhig. „Wir kümmern uns erst einmal um das, was wir wirklich tun können.“ Rulavan nickte und beruhigte sich langsam wieder. „Du bist zur rechten Zeit zurück. Vielleicht hast du ja eine Idee, was man tun kann. Ich dachte, vielleicht reden wir mit dem Prinzen, er soll in der Gegend sein. Die Dinge, die ich hier von Hararth erfahren habe…der Verrat der Falken…was in Heidefall passiert ist… “ er brach wieder ab, weil all diese Dinge im Augenblick zuviel für ihn waren. Geol sah ihn unglücklich an. „Der Prinz ist in der Nähe“, sagte er langsam. „Aber was genau gerade vorgeht, kann ich dir auch nicht sagen. Es scheint, er ist ähnlich verzweifelt wie du und versucht, an allen Orten gleichzeitig zu
flicken.“ Er seufzte. „Wir können nichts tun, ehe wir nicht dieses Problem hier gelöst haben. Erzähl mir drinnen von den Dingen, die du
gehört hast, oder später. Wir werden zusammentragen, was die Leute hier wissen, besonders die Dunländer, jetzt, wo wir sie einmal hier
haben. Und dann sehen wir, was wir für Rohan tun können.“ Rulavan nickte, löste sich aus der Umarmung und hob Geols Kiste auf. Allein
das „wir“ zu hören hatte ihm schon sehr geholfen.

Als Lorron als Letzter die Höhle verließ blickte er mißmutig in den Gang zurück. Etwas sagte ihm, dass es noch nicht vorüber war. Sein
Verdacht bestätigte sich, als er, ins Lager zurückgekehrt, seinen Vater und Rulavan aufgesucht und mit Daro, Daerwulf und Comlen
gesprochen hatte. Es fehlten einige Gesichter und Namen, sowohl bei ihnen wie auch bei den Dunländern. Sie waren nicht hier und es hatte
sie niemand sterben sehen oder war auf ihre Leichen gestoßen. Die meisten waren in den letzten Tagen verschleppt worden, meist nach
irgendeinem Vorfall, und es waren sämtlich recht kräftige Männer gewesen, wie Tjoren, der Rulavan verteidigt und dabei einen Ork mit
bloßen Händen erwürgt hatte. Sie vermuteten, dass man sie für irgendeine besondere Arbeit eingesetzt hatte. „Wir gehen nochmal
rein“, entschied Lorron. „Vielleicht haben wir etwas übersehen.“ Daro und Daerwulf waren derselben Meinung. Mit grimmigen Gesichtern halfen
sie Lorron, die Leute zusammenzusuchen, die zu dieser Expedition noch in der Lage waren.

(danach)
Mit einem grimmigen Schnauben zog Lorron sein Schwert aus der Leiche des Schamanen. Aus dem Augenwinkel sah er, daß die anderen sich daran
machten, die Überwältigten zu fesseln oder die Gefangenen von den Pfählen, an die man sie gebunden hatte, zu befreien. Er blickte sich
um und fluchte innerlich. Tjoren hing nicht an einem dieser Pfähle. Er war ihnen auch nicht wutentbrannt entgegengestürmt. War er für ihn zu
spät gekommen? Mit klopfendem Herzen wandte er sich der Tür der Hütte zu, aus der der Schamane gekommen war. Und stutzte. „Suchst du noch
einen Gegner, Flachskopf?“ Tjoren lehnte am Türrahmen, eine Axt in der Hand. Er wirkte müde und zerschlagen, aber dieser Eindruck verflog
rasch, als er sich vom Holz abstieß und aufrichtete, die Waffe bereit haltend. „Dann komm nur her, auf dich hab‘ ich nur gewartet…“
„Tjoren… jetzt nicht, wir müssen hier raus… da könnten immer noch irgendwo Feinde stecken, und die Verletzten…“ Er kam nicht weiter,
denn mit einem Aufschrei griff ihn Tjoren so ungestüm an, dass er ihm nur knapp ausweichen konnte. Er hörte andere die Waffen ziehen und
wusste, daß er schnell handeln mußte. Jetzt begrüßte er es, dass sein Angreifer in dieser schlechten Verfassung war. Andernfalls wäre es ihm
nie gelungen, ihn unschädlich zu machen ohne ihn weiter zu verletzen. Mit einem vorgetäuschten Schlag lenkte er Tjorens Waffe dorthin, wo er
sie haben wollte, trat dann nahe an ihn heran und packte ihn bei beiden Armen, das Schwert fallen lassend. Tjoren kämpfte darum, den
Arm mit der Axt frei zu bekommen, aber sosehr er sich auch anstrengte, Lorrons Finger hielten sein Handgelenk eisern umschlossen. Tjoren
spuckte ihn an. „Du täuschst dich, wenn du glaubst, du hast gewonnen“, zischte er. „Ihr könnt nicht gewinnen. Ihr seid zu wenige. Aber du
warst ja schon immer ein arrogantes Miststück, Lorron Reen, du begreifst nicht, wenn du verloren hast, nicht wahr? Um dich rum kann
alles zu Bruch gehen, aber solange du dein verdammtes Riesenschwert hast kann dir ja nichts passieren und der Rest ist dir egal!“ Verdutzt
schüttelte Lorron den Kopf. „Du weißt, daß es nicht so ist. Tjoren, hast du das etwa vergessen? Ich war lange weg, aber jetzt bin ich
zurück und…“ „Und alles ist gut oder was?!“ schrie Tjoren ihn an. „Was stellst du dir vor? Schau dich doch um, was hier los ist. Du
erschlägst einen und drei kommen nach. Du kannst nicht gewinnen, und ich war es leid, zu verlieren! Ich bin es leid! Und ob ich jetzt deine
Befehle ausführe oder die der anderen, ich bin euch doch allen egal! Die hier geben wenigstens nicht vor, meine Freunde zu sein und es
erwartet auch niemand Dankbarkeit von mir, ich muß nur mitlaufen…“ „Tjoren, ich habe nie…“ „Warum bist du hier, Lorron Reen? Warum hast
du mich nicht erschlagen wie ihn (zum Schamanen nickend)? Hättest du doch leicht gekonnt. Machst du dir immer noch vor, ein Held zu sein?
Meinst du, dir fällt ein Zacken aus der Krone, wenn du einen Mann verlierst, den du für deinen hältst? Was deins ist gibst du nicht her,
nicht wahr, und in deiner Überheblicheit kommt dir nicht mal annähernd in den Sinn, daß du dich getäuscht haben könntest. Wenn du mich hier
rausziehst, dann doch nur, um dir selber gerecht zu werden. Hauptsache, der strahlende Reiter, der nie aufgibt, hat mal wieder
seine Pflicht erfüllt. Hauptmann Reen geht die Welt retten, ob sie will oder nicht. Du kotzt mich an!“ Lorron war sich bewusst, daß die
anderen in seinem Nacken längst in ihren Tätigkeiten innegehalten hatten und sie anstarrten. Tjoren wehrte sich noch immer gegen seinen
Griff. Er war schweißgebadet und in seinen Augen lag blanke Wut. Lorron mußte lachen. Er ließ Tjorens Handgelenke los um ihn fest in
die Arme zu nehmen und an sich zu drücken. „Mann, ich hab‘ dich auch vermisst“, sagte er. „Es tut verdammt gut, zurückzukehren, und
festzustellen, daß sich einige Dinge wohl nie ändern werden. Ich hab‘ mein wandelndes Gewissen wiedergefunden.“ Er lachte wieder, sah Tjoren ins im Augenblick völlig irritierte Gesicht, das gerade im Begriff war, in ’noch wütender‘ umzuschlagen. „Tjoren Haldagard, ich hab’s dir schon
mal gesagt, und ich werd’s dir immer wieder sagen, solange es nötig ist, bis du’s verstehst. Du hast wie immer in einigen Punkten völlig
Recht. Es ist mir absolut scheißegal ob du mich leiden kannst oder nicht. Du gehörst zu uns, zu Rulavan, der sich wirklich Sorgen um dich
macht, zu Trevvis und den Männern daheim, die dich wiedersehen wollen. Und deshalb werde ich dich nicht im Stich lassen, ganz gleich, was du
denkst oder mir an den Kopf wirfst. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, werde ich immer versuchen, dich da rauszuholen, und ob ich
das nun tue, weil ich dich Idioten so gern hab‘ oder weil ich selbst ein arroganter Idiot bin, der nur einfach nicht verlieren will, das
kommt doch im Endeffekt auf’s Gleiche hinaus. Du kannst dich auf mich verlassen. Schau, ich bin da.“ Er ließ Tjorens Arme los und trat einen
Schritt zurück. „Diesmal laufe ich nicht gleich wieder fort. Ich bleibe und kümmere mich um die Dinge, ich versprech’s dir.“
Er bückte sich nach seinem Schwert, steckte es ein und kehrte Tjoren den Rücken zu, als er sich zu den anderen wandte. Die ganze Zeit
fürchtete er, ‚Versprich nichts, was du nicht halten kannst‘ oder einen ähnlichen bissigen Kommentar von Tjoren zu hören. Aber es blieb
still und es flog ihm auch keine Waffe hinterher. Er atmete auf. Also bestand die Hoffnung, dass sie miteinander wieder
den Punkt erreichen würden, an dem sie angekommen waren, als er fortgegangen war.

(später)
„Tjoren?“ Lorron bemerkte überrascht, daß er nicht mehr an seinem Platz war. Noch erstaunter war er, als er ihn aufrecht gehen sah. „Du
meine Güte, sag doch etwas“, holte er ihn ein. Haldagard reagierte nicht auf ihn, sondern bewegte sich langsam weiter durch die Leute auf
den Wagen mit den Waffen zu. Er schwankte, mußte sich an einem Felsen abstützen, wehrte Lorrons helfende Hand ab, ohne zu ihm aufzusehen
oder etwas zu sagen, vielleicht sogar, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, rappelte sich wieder auf und hielt wieder auf den Wagen zu. Dort
angekommen packte er die rauhen Bretter, aus denen der Rand gezimmert war, und hielt sich daran aufrecht, während er den Männern zusah. Ein
Dunländer und ein Eorlinga waren hinaufgeklettert und durchwühlten die Fracht, reichten einzelne Stücke zu ihren Freunden am Boden. Andere
nahmen sich selbst etwas von den Fundstücken, prüften die Waffen, machten einige Probebewegungen, gingen damit fort oder legten sie
zurück und nahmen sich eine andere. Als ein Dunländer einen schönen Langbogen aus fast orangefarbener Eibe hervorzog gab Tjoren einen
seltsamen Laut von sich, stieß sich von den Brettern ab und nahm dem völlig verblüfften Mann die Waffe schlicht aus der Hand. Es war dem
Dunländer anzusehen, wie sehr er sich darüber ärgerte, er fuhr auf Tjoren los und rief etwas, das in seiner Sprache „Gib wieder her, den
habe ich zuerst gesehen, du unverschämter Kerl!“ bedeutete. Tjoren ignorierte ihn. Als er hatte, wofür er gekommen war, verließ ihn die
Kraft, die ihn bis hierher auf den Beinen gehalten hatte. Direkt wo er gestanden hatte streckte er sich lang auf der Erde aus und war mit
einem zufriedenen Lächeln im Gesicht sofort eingeschlafen. Den Bogen hielt er noch immer fest in Händen, den Kopf daran gelehnt wie ein
Kind an sein Spielzeug. Irritiert starrte der Dunländer auf ihn herab und war unschlüssig, ob er ihm die Waffe nun wegnehmen sollte. Lorron
schob den Mann fort, den Kopf schüttelnd und auf den Bogen deutend. „Das ist schon lange seiner. Such dir einen anderen.“ Er drehte ihn
zum Wagen hin und blieb so zwischen ihm und Tjoren stehen, daß der Mann schnell begriff, daß er diesen Preis nicht bekommen würde.
„Darrens Bogen.“ Rulavan war an Lorrons Seite aufgetaucht. „Sein Meisterstück. Ich erinnere mich, dass er diese Eibe oben in den Bergen
jahrelang gehütet hat, bis sie groß und stark genug war, sie für den Bogen zu fällen.“ Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Zu groß und
stark fast. Er hätte den schönen Stab, den er aus dem Kernholz und der Schicht darum geschnitten hatte, kürzen müssen, um einen Bogen passend
für seine Größe zu machen, aber er brachte es nicht über’s Herz. Er machte daraus den besten Bogen, den er je gefertigt hat, Sohn einer
Familie von Bogenbauern in langer Tradition. Stolz war er auf das schöne Stück. Eine Eibe von fünfhundert hat ein solches Holz, hat er
gesagt. Sie wachsen nicht alle gleich. Und nur bei den wenigsten davon kann man so große, zugstarke Arme fertigen, ohne dass es splittert. Er
hat ihn getestet, für gut befunden, beiseite gestellt und gehegt und gepflegt. ‚Es wird schon der richtige Schütze für ihn kommen‘, hat er
gesagt.“ „Ich hätte nie gedacht, daß der Richtige ausgerechnet Tjoren sein würde“, sagte Lorron. „Ich erinnere mich sehr wohl, Rula. Ich war
völlig verblüfft als er ihm damals, gleich beim ersten Üben nach der Gehirnerschütterung, die Waffe in die Hand gegeben hat. Er kannte ihn
doch da noch gar nicht lang und macht ihm ein solches Geschenk.“ „Hm. Er kannte ihn lange genug, um zu sehen, was zusammenpasst.“ Rulavan
seufzte. „Tjoren hat nicht viele Freunde, Lorron. Das hat sich auch nicht geändert, nachdem du fort warst. Für die Männer ist er ihr
Ausbilder, sie respektieren ihn, sie würden für ihn durch’s Feuer gehen, aber es ist niemand darunter, der ihn wirklich Freund nennen
würde. Für ihn bin ich sein Hauptmann… zumindest war ich’s bis jetzt… und er redet mit mir über vieles, aber mit Sicherheit nicht
über alles. Trevvis und Darren, glaube ich, sind die einzigen, denen er sich je geöffnet hat. Wenn du mich fragst, der Mann braucht ’ne
Frau, aber da was Ernstes anzufangen kommt ihm ja auch nicht in den Sinn.“ Er schnaufte. „Nichts als Ärger,“ sagte er grinsend. „Junge,
bin ich froh, daß ihr ihn gefunden habt.“

Er öffnete die Augen, blickte das Grasbüschel vor seiner Nase an und blinzelte. Trockenes, sonnenbeschienenes, warmes Gras. Er rollte sich
herum und sah zum Himmel hinauf. Klar, blau, mit wenigen weißen Wölkchen, die fast gelangweilt über die Baumwipfel dahintrieben.
Tjoren atmete tief durch. Definitiv nicht mehr diese Gänge… Er schauderte, als er an die dunklen Verliese dachte, aber angesichts
dieses sonnigen Tages begann die Erinnerung bereits zu verblassen. Sicher, sobald er erstmal aufstand würden sich all die hundert kleinen
Verletzungen bemerkbar machen und die Wirklichkeit dessen, was geschehen war, würde sich wahrscheinlich nicht mehr verdrängen lassen.
‚Aber ich muß ja noch nicht aufstehen‘, dachte er und verfolgte mit den Augen ein paar streitende Finken in der Baumkrone über sich, ein
Blatt, das zu Boden wehte und eine besonders schöne Wolke, die sich in immer andere Formen veränderte. Er schloß die Augen wieder, aber er
schlief nicht sondern genoß die Wärme der Sonne auf seinen Augenlidern. Eine Weile war die Welt so, wie sie sein sollte. Dann aber schob sich
wohl eine Wolke vor die Sonne, denn es wurde dunkler und kühler. Er öffnete die Augen und sah Rulavans vertraute Form, über sich gebeugt.
„Wie geht es dir?“ fragte er. Tjoren knurrte. „Du stehst mir im Licht“, brummte er, blickte hoch zu den Wolken und runzelte die Stirn.
„Und die Sahnehaube ist auch weg.“ Rulavans Blick war jetzt eindeutig besorgt. „Kannst du dich erinnern, was passiert ist?“ „Klar kann ich“.
Tjoren schloß die Augen wieder. „Will ich aber nicht. Rück beiseite, lass mich in Ruhe. Ja, ich kann die Leute hören. Ihr wollt bald
aufbrechen. Ist es etwa schon soweit?“ „Noch nicht. Wirst du laufen können?“ „Nehm‘ ich mal an.“ Er öffnete die Augen, schaute aber an
Rulavan vorbei. „Wußtest du, wieviel verschiedenes Blau an einem so einem Himmel ist?“ Rulavan schnaufte. „Also nicht“, murmelte Tjoren.
„Du nimmst dir zu wenig Zeit, so zwischendurch. Ich wette, Reen hatte soviele Ideen, was du alles erledigen könntest, dass du heute noch
nicht einmal da hoch geschaut hast.“ „Es ist auch wirklich verdammt viel zu tun!“ gab Rulavan gereizt zur Antwort. Mit einem Stöhnen
setzte Tjoren sich auf. „Ja. Und ich wollte nur kurz sichergehen, dass ich wirklich kein Gefangener mehr bin.“ Er schaute Rulavan dabei so
ernst an, dass dieser sich etwas unbehaglich fühlte, ihn gestört zu haben. „Komm, hilf mir auf die Füße“, sagte Tjoren. „Schauen wir mal,
wie’s geht.“

aus den Ländern von Mittelerde und darüber hinaus