Aerdan’s Aufbruch

Es war die verwirrendste Nacht seines Lebens gewesen und nun stand bereits ein Aufbruch an. Was in der Stadt zu ordnen war mußte er Gerwald überlassen. Sie würden in zwei Einheiten ausrücken: Einige der vertrauenswürdigen Stadtwachen und die eingezogenen Zivilisten würden Marschall Bynstan direkt unterstellt sein und er selbst würde unter Marschall Bynstan mit seinen Männern ins Feld ziehen. Mit was für Männern… seine Einheit blieb so intakt, wie es unter den Umständen möglich war, aber noch immer war er sich bei Olwigs falschen Freunden nicht sicher, was er von ihnen zu halten hatte. Alle wollten von nichts gewußt haben und allesamt waren entsetzlich gehässig. ‚Ihr wechselt mir eure Meinung zu schnell‘, knurrte er leise und ging die Namen derer durch, die seine Gruppe verstärken würden. Ranulf. Sicher, was auch immer sie sich dabei gedacht hatten, ihm jetzt den Sohn eines der beiden Haupttäter zuzuschieben… das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seine Männer trauten dem nicht, ganz gleich, ob er in Hytbold auf der richtigen Seite gekämpft hatte. Aerdans Männer waren nicht dabei gewesen und in seinen Kopf sehen konnte niemand. ‚Ich stelle ihm Jurlen zur Seite, der ist solide, das wird seine Aufgabe‘, dachte er, während er die Treppe zum Gefängnis hinabstieg. Bei zweien der Männer dort war ihre Verwicklung zweifelhaft und sie sollten unter ihm dienen um zu beweisen, was in ihnen steckte. Ein Wachmann führte ihn in den Raum, in dem die beiden warteten, an Olwigs Tür vorbei. Der sah auf. „Aerdan…“ Die beiden Männer beachteten ihn nicht, sie sprachen miteinander.
„Aerdan!“ rief Olwig, etwas lauter.
Die beiden verschwanden in dem Raum und kehrten etwas später mit den anderen beiden im Gefolge zurück.
Olwig langte durch die Gitterstäbe der Tür, um Aerdan am Arm zu fassen. „Captain, hört mir zu, ich…“
Aerdan’s Blick war genug, daß er schnell losließ und sich einen Schritt von der Tür zurückzog.
„Ich bin nicht mehr dein Captain, Olwig. Deine falsche Wahl hätte ich dir schnell verziehen, aber dein Versuch, mich deine Lüge decken zu lassen? Das war zuviel. Was glaubst du, wen du vor dir hast? Bin ich in all den Jahren, als ich nachsichtig zu dir war, zu einer Art Witzfigur in deinen Augen verkommen, die du nach deinen Wünschen benutzen kannst? Da hast du dich getäuscht.“ Damit kehrte er sich von ihm ab und ging weiter.
„Aber die anderen nehmt ihr doch auch mit euch…“ rief Olwig aus. „Captain Jarl…, gebt mir eine Chance…“ Aerdan hielt nicht an.
„Sir, bitte…“ Aerdan hörte die Verzweiflung in seiner Stimme, ehe der Wachmann die Tür schloß.
„Vielleicht… solltet ihr darüber nachdenken?“ warf einer der beiden neuen Männer vorsichtig ein. „Seine Aussage hat mich entlastet, nachdem mir ein neidischer Nachbar Ärger in die Schuhe schieben wollte.“ Aerdan dachte die ganze Zeit darüber nach. Aber es änderte nichts daran, daß er unsicher war, ob Olwig überhaupt begriffen hatte, was er angerichtet hatte.
„Das stimmt“, hörte er den Wachmann sagen. „Er ist uns ziemlich zusammengebrochen, nachdem wir ihn aus der Halle herausgebracht hatten. Naja, mit all den Leuten im Nacken… kein Wunder. Jedenfalls hat er eine ziemliche Menge an Fakten zu Protokoll gegeben, die Hauptmann Gerwald demnächst prüfen darf. Für uns klang er glaubwürdig. Scheint ihn ernüchtert zu haben, daß ihr nicht bereit wart, ihn zu decken.“
„Gut so“, kommentierte der zweite neue Mann. „Der Kerl hatte sich das dermaßen verdient… hat mich immer gewundert, daß der mit seiner ekligen Art so gut durchgekommen ist.“
Aerdan sagte nichts. Ja, er hatte es sich verdient. Hatte es ihn aber wirklich zur Besinnung gebracht? Konnte er ihm ernsthaft wieder in seiner Einheit trauen? Konnte Olwig überhaupt jemals wieder mit diesen Männern zusammenarbeiten, von denen ihn die Hälfte jetzt zu Recht hasste und die andere Hälfte, seine ehemaligen Anhänger, vorsichtig Abstand halten oder heftig gegen ihn wettern würde? Konnte das gut gehen? Wenn er doch nur mehr Zeit hätte, solche Entscheidungen zu treffen. Aber sie wollten heute noch aufbrechen. So, wie der Bote geklungen hatte, würde es ein größerer Kampf sein, der ihnen bevorstand, wenn auch noch unklar war, was als Nächstes geschehen würde. War es richtig, einen guten Kämpfer, der darauf brannte, sich zu beweisen, im Gefängnis zu lassen?

‚Was tue ich hier eigentlich‘, dachte Aerdan, während er vor der Tür der Lady Ides darauf wartete, zu ihr vorgelassen zu werden. ‚Red‘ dir ein, was du willst, Aerdan. Du tust das hier nicht, um einen guten Kämpfer mehr zu haben. Du willst einfach nur deinen Jungen zurück und du willst sehen, daß er daran arbeitet, sich zu ändern. Er hat um eine Chance gebeten, und diesmal war es wirklich eine Bitte, keine Forderung oder Selbstverständlichkeit. Er soll seine Chance haben, wenn es die Lady zuläßt.‘

Die Lady Ides hörte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Auch sie hatte wenig geschlafen und wenig Zeit, Entscheidungen zu treffen. „Nun gut“, sagte sie. „Wenn ihr es wirklich mit ihm versuchen wollt dann sei es so. Aber auf eure Verantwortung, Captain.“

Inzwischen war es Mittag und um Bynstan sammelten sich bereits die Krieger. Jurlen hatte die wenig erfreuliche Aufgabe, die Gemüter zu beruhigen, nachdem Aerdan seine Entscheidung bekannt gegeben hatte.
Der Wachmann im Gefängnis sah ihn nur kopfschüttelnd an. „Hätte ich nicht erwartet, daß ihr ihm so bald verzeiht.“ „Habe ich auch nicht“, knurrte Aerdan. „Es bleibt nur keine Zeit mehr bis zum Aufbruch. Dem steht noch Einiges bevor.“ Er bekam die Schlüssel in die Hand gedrückt. „Ihr wisst ja, wo er ist.“

Er hockte zusammengekauert auf der Pritsche und zitterte. Ein Teller Essen stand unberührt bei der Tür. Er sah nicht einmal auf, als der Schlüssel im Schloß knirschte.
„Olwig.“
Er zuckte zusammen und richtete sich etwas auf, ihn anstarrend, aber dann schnell den Blick senkend. „Ich hatte Angst“,sagte er stockend. „Vor all den Leuten, aber am meisten vor dem, was dann wirklich geschehen ist: dass ihr euch von mir abwendet.“ Seine Stimme war belegt. Er hatte geweint. „Ich brauche euch, sonst stehe ich das nicht durch“, murmelte er leise. „Ich habe doch niemanden ausser euch, Mutter und die Schwestern, sie versuchen, sich ihr Ansehen zu bewahren. Sie wollen nichts mehr mit mir zu tun haben, haben sie ausrichten lassen.“
Aerdan seufzte und setzte sich neben ihn. ‚Das ist schlimm‘ dachte er, ‚…und ich verstehe deinen Kummer. Aber deine Angst… die Grundlagen dafür hast du mit deinem Verhalten selbst gelegt. Und das ist dein Problem. Du bist dir wichtig, deine Angst, nicht ich oder andere. Und du benutzt deine Angst jetzt als Schild und Entschuldigung. Einmal mehr. Aber ich möchte nicht, dass du untergehst. Hoffentlich ist das kein Fehler.Immerhin liegt dir noch an meiner Meinung. Das ist ein Anfang. Versuchen wir es noch einmal von da aus.‘
Sein Schweigen war bedrückend für Olwig. „Ich… Ich habe getan, was Ihr mir aufgetragen habt, ich habe denen alles gesagt, aber es zu wissen hat sie nicht gerade beruhigt.“
„Kann ich mir vorstellen. Es tut mir leid, Junge. Vorhin war ich noch zu wütend, um dir zuzuhören. Jetzt bin ich hier.“
„Ich weiß nicht einmal, wie ich euch anreden soll.“
„So wie früher wäre nicht schlecht.“
Ein seltsamer Ausdruck trat in Olwigs Augen und verdrängte die Verzweiflung, die dort so übermächtig gewesen war. „Onkel Aerdan…“ schluchzte er auf.
Er hätte auch ‚Captain‘ sagen können, aber daran dachte er nicht einmal. Das, was ihm so weh getan hatte, war vor allem der Verlust von Aerdans Vertrauen gewesen, diesmal wirklich nicht seine Position in der Gruppe.
„Schon in Ordnung. Du hast mich um eine Chance gebeten und du bekommst sie auch.“ Aerdan legte ihm den Arm um die Schultern. ‚Und ich hab‘ ihm doch bereits verziehen‘, dachte er. „Aber dafür mußt du noch etwas für mich tun, Junge. Ich will keine Lügen mehr und erwisch ich dich bei Überheblichkeiten haben wir beide ein Problem. Und du mußt als mein Waffenmeister weiter durchhalten. Nur in der Position wirst du in der Lage sein, dich zu behaupten. Das wird nicht leicht. Ich habe mit Chlodhere gesprochen. Zum Glück kann man sich auf ihn immer verlassen. Der gibt auf dich Acht, daß dir keiner an den Kragen geht da draußen. Na komm, wir müssen los.“
Olwig atmete mehrmals tief durch, bis er sich beruhigt hatte. „Wirklich?“fragte er unsicher. Aerdan nickte. „Es sei denn, du traust es dir nicht zu.“
Olwig schüttelte den Kopf und wischte sich über die Augen. „Ich werde mir Mühe geben. Ich will euch nicht wieder enttäuschen. Nie wieder, wenn ich es vermeiden kann.“
Aerdan klopfte ihm auf die Schulter und stand auf.

aus den Ländern von Mittelerde und darüber hinaus