Unterwegs – Tjoren

„Dusseliger Dreckskerl! Streng dich gefälligst ein bischen an, sonst mach‘ ich dir Beine! Und du glotz nicht so! Du bist keinen Deut besser, beweg dich!“ Tjoren Haldagards Stimme klang so gereizt und laut herüber, daß die Männer im Nachbarlager aufsahen. Anwine machte einen Bogen um den Übungsplatz und schüttelte den Kopf. Er hatte eigentlich vorgehabt, einmal hinüberzugehen und ein paar Worte mit Aswig zu wechseln, aber nun verschob er das lieber. Es mochte ja durchaus unter Waffenmeistern üblich sein, die Rekruten hart dranzunehmen, aber das Repertoire an Flüchen, die dieser Haldagard parat hatte wenn er sich erst einmal richtig geärgert hatte, ließ auch einen gestandenen Krieger schlucken. „Ich wette, da drüben fliegen gleich die Fetzen“, sagte der Mann, der Anwine gegenüber saß. „Äxte. Heute fliegen die Äxte“, sagte ein anderer. „Zu schade, daß Reen Leochtmar nicht mehr herüberläßt. Hätte gern drauf gewettet.“
Er hätte sein Geld verloren. Heute beherrschte sich Tjoren. Dafür dauerte das Training lang, so lange, wie es die Lagerwachen gerade erlaubten, um eine gewisse Nachtruhe zu wahren.
Mißmutig entließ er seine Leute, die die Wachen dankbar ansahen und sich schnell zurückzogen. Er selbst räumte auf und ging dann langsam zu seinem Gepäck, um seine Schlafmatte zu entrollen. Er fand jedoch kaum Ruhe. Als der Wachwechsel in der Nacht an ihm vorüberkam saß er noch immer mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt und dem Kopf in den Händen vergraben da. „Ist etwas passiert, Tjoren?“ Lorron war bei ihm stehen geblieben und setzte sich jetzt zu ihm. Um sie her wurde es düster als die anderen mit der Fackel weitergingen. „Warum schläfst du nicht? Die Nacht ist kurz genug.“ Tjoren schnippte einen Kieselstein neben seiner Matte in die Dunkelheit und knurrte. „Ich hab’s vermasselt“, brummte er.
„Wovon sprichst du?“ „Wovon wohl!“ Seine Rechte schlug mit der Handfläche auf dem Boden auf. „Von den Bauern und Handwerkern und… ich verstehe ja, daß jeder mithelfen muß, damit da ein Heer in Minas Tirith ankommt und kein Trüppchen, aber… das, was da aus den Dörfern gekrochen ist um des Königs Ruf zu folgen… voller Heldenmut, und den werden sie auch brauchen, aber ohne das geringste Können! Wie auch! Ich habe aus den jungen Hitzköpfen, die du mir zurückgelassen hast, eine hervorragende Einheit gemacht, aber das hat Jahre gedauert, Lorron, Jahre! Ich habe keine Jahre, ich habe keine Monate, ich habe nur ein paar kurze Stunden an ein paar Tagen, und dann werden wir da sein. Und dann? Die sind nicht soweit! Selbst Daerolt und seine Leute… die haben das prima hingekriegt ihr Dorf gegen Wölfe oder den gelegentlichen Dieb zu verteidigen, die haben eine! jährliche Übung abgehalten… die halten sich für brauchbar, was es nicht einfacher macht, aber die sind wirklich schon das Beste von dem, was sich uns in Dunharg angeschlossen hat!“ „Tjoren… etwas leiser… bitte. Meinst du nicht, wir alle wüßten nicht um das Problem? Du bist nicht der Einzige, der sich darüber Gedanken macht. Wir…“ „Du hast keine Vorstellung. Nimm zum Beispiel diesen Ormund. Gestern hat der Mann zum ersten Mal in seinem Leben ein Schwert in der Hand gehalten. Weißt du, was er damit angestellt hat? So schnell konnte ich’s ihm kaum wegnehmen… der ist eine Gefahr für die Allgemeinheit mit dem Ding, da brauchen wir keine Feinde. Im Ernst. So, und was mache ich? Daheim kann ich die passende Waffe für jemand finden, aber hier? Das, was sie mitgebracht haben oder das, was irgendwo übrig war. Der hatte aber nichts, und jetzt steht er mit einem Dolch und einer Schleuder da! Lorron! Ich kann ihm kein Schwert geben, nicht guten Gewissens, und was Speere angeht… Trevvis schnitzt ihm einen, wir werden sehen. Ganz ehrlich? Der wird keine große Hilfe sein, wenn es losgeht, und die anderen wie er auch nicht. Eher eine Behinderung, weil wir auf sie aufpassen müssen.“ „Ich weiß das, und ich mache dir mit Sicherheit keine Vorwürfe.“ „Deine Vorwürfe wären mir doch wurstegal… ich mache mir selbst welche….“ Tjoren fuhr sich mit beiden Händen durch sein von der Übung wirres Haar. „Ich sollte zusehen, daß ich in der Kürze der Zeit das Beste draus mache, statt dessen verliere ich die Nerven und schreie sie an… wenn wir Trevvis und Hereward nicht hätten… die sind die Ruhe selbst. Die geben ihnen das Gefühl, daß sie das schon irgendwie schaffen können, daß sie jeden Tag ein kleines bischen besser werden… ich schicke denen alle, mit denen ich nicht fertig werde. Es arbeitet ja schon jeder mit und zeigt den Neuen, wie man mit den Waffen umgeht, Alden und Gerfrith und Haram und Aswig… alle im Einsatz, alle ruhig…. und ich kann das nicht. Scheißegal ob sie jeden Tag etwas besser werden und sich drüber freuen. Es wird trotzdem nicht reichen, nicht in einer Schlacht gegen Gegner, die ihr Leben lang nichts anderes getan haben, als zu kämpfen! Da können sie ihre Speere festhalten, ihre Gäule vorantreiben und hoffen. Das war’s. Es kotzt mich an, ihnen etwas vorzumachen. Ich hab’s mit denen versucht, wo ich eine Chance gesehen hab, da noch etwas draus zu machen. Aber die konnten mit der Wahrheit nicht umgehen und zittern jetzt sowohl vor mir als auch vor der kommenden Schlacht.“ Er schnaufte und schlug wieder hilflos mit beiden Händen auf den Boden. „Vermasselt. Trevvis und Hereward haben mit ihrer Zuversicht mehr erreicht. Deren Jungs würden nicht am liebsten umkehren.“ „Von deinen ist auch noch keiner umgekehrt. Und heute warst du schon ruhiger, soweit ich das gehört habe. Mach einfach weiter so. Wenn es losgeht steht immer einer, der weiß, wie’s geht, neben einem, für den alles neu ist. Und ab da heißt es für uns alle: hoffen.“
„Weiter wie bisher…“ wiederholte Tjoren tonlos.
„Ja. Du hättest dich nicht um sie zu kümmern brauchen, hast du aber. Vorhin sind zwei von deinen an mir vorbeigekommen. Haben sich einen ruhigen Ort gesucht um nochmal durchzugehen, was du ihnen gezeigt hast… ohne daß du sie kritisieren kannst. Sie mögen sich fürchten, aber du hast sie immerhin zum Üben bewegt, und das tut nur, wer noch Hoffnung hegt, daß es etwas bringt. Wer weiß, vielleicht hilft es ihnen ja doch das entscheidende kleine bischen.“ Tjoren grummelte und brummelte etwas.
Lorron stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. „Schlaf, sonst sind die morgen besser als du.“
„Von wegen….“ murmelte Tjoren, legte sich aber dabei zurück und rollte sich ein.

aus den Ländern von Mittelerde und darüber hinaus